(1) "Handle nur nach
derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein
allgemeines Gesetz werde." Aus I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,
Akademie-Ausgabe Kant Werke IV, (1781, 421).
(2) Bezüglich Selbstbestimmtheit
findet man umfangreiche Ausführungen in Peter Bieri,
Das Handwerk der Freiheit, Kapitel 11: "Facetten der Selbstbestimmung" (2011,
416-430). Insgesamt gibt uns Peter Bieri in seinem
Buch eine äußerst facettenreiche Darstellung der Freiheit, einer Freiheit, die
uns nicht einfach in die Wiege gelegt wird, sondern die wir uns erarbeiten
müssen.
(3) Der Reichtum der
Alternativen kann größer sein als ich glaube. (.) Solche Freiheit liegt im
Bestehen und nicht im Kennen der Möglichkeiten. (.) Man könnte das objektive
Freiheit nennen." (Bieri 2011, 46-47)
(4) Bieri
betont, dass zur Fähigkeit des Entscheidens auch ein innerer Abstand
erforderlich ist. Dann gilt: "Wenn ich in der Phantasie den Raum der
Möglichkeiten abgeschritten habe, gebe ich kritische Distanz auf und überlasse
mich dem bevorzugten Wunsch und seiner Erfüllung durch die Handlung." (Bieri 2011, 72).
(5) Wertvolle Einblicke
in die Welt der Gefühle, die großen Einfluss auf unsere Entscheidungen ausüben,
liefert uns die erfahrene Psychologin Susan Forward in: Emotionale Erpressung.
Sie weist in ihrem Buch darauf hin, dass Gefühle nicht die kurzlebigen,
unabhängigen Kräfte sind, für die sie oft gehalten werden. Sie sind eine
Antwort auf das, was man denkt. Dabei spielen Überzeugungen eine wichtige Rolle,
die in allen Lebensphasen durch machtvolle Personen vermittelt werden - durch
Eltern, Lehrer, Vorbilder, nahe Freunde. Und diese Überzeugungen sind die
Quelle der Gefühle. (vgl. Forward 2000, 237).
(6) Dass der Mensch
nicht nur aus äußerem Zwang sondern auch aus innerer Notwendigkeit handle, dass
der menschliche Wille also keineswegs frei, sondern durch vielerlei Ursachen
determiniert sei, schreckte Einstein nicht. Im Gegenteil, er sah darin eine
unerschöpfliche Quelle der Toleranz und des Humors: "Schopenhauers Spruch: 'Der
Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will', hat mich
seit meiner Jugend lebendig erfüllt und ist mir beim Anblick und beim Erleiden
der Härten meines Lebens immer Trost gewesen und eine unerschöpfliche Quelle der
Toleranz. Dieses Bewusstsein mildert in wohltuender Weise das leicht lähmend
wirkende Verantwortungsgefühl und macht, dass wir uns selbst und die anderen
nicht gar zu ernst nehmen; es führt zu einer Lebensauffassung, die auch
besonders dem Humor sein Recht lässt." (Einstein 2005, 9).
(7) Du kannst tun, was
du willst: aber du kannst, in jedem gegebenen Augenblick deines Lebens nur ein
Bestimmtes wollen und schlechthin nichts Anderes, als dieses Eine." Entnommen
aus Arthur Schopenhauer: Preisschrift über die Freiheit des Willens. In: Arthur
Schopenhauer: Werke in 10 Bänden. Hg. v. Arthur Hübscher. Bd. 6. (1977, 62).
(8) Für den Philosophen
Julian Nida-Rümelin, einem bekennenden non-Naturalisten, "ist die Freiheit bedingt, sie ist nicht
unbedingt." Es ist "die spezifische Freiheit des Menschen Gründe abzuwägen und
dieser Abwägung entsprechend zu handeln." (2005, 158). "Willensfreiheit wird daher zum Merkmal einer
erfolgreichen Abwägung praktischer Gründe. Erfolgreich ist eine Abwägung dann,
wenn die besseren Gründe das Handeln bestimmen." (2005, 89). Entnommen aus
Julian Nida-Rümelin: Über menschliche Freiheit.
(9) Die sinnvolle Frage
nach der objektiven Verantwortung einer Tat darf nicht mit der illusionären
Frage nach der subjektiven Verantwortung eines Täters verwechselt werden. Hier
liegt auch der Unterschied zwischen einer globalen humanistischen Ethik und
einer dogmatischen Moral. Siehe auch Michael Schmidt-Salomon: Jenseits von Gut
und Böse. (2009, 197ff).
(10) Untersuchungen haben
ergeben, dass bereits mit dem sechsten Lebensjahr das Ausmaß der
verinnerlichten Aggressionsbereitschaft stabil angelegt und kaum noch wirklich
veränderbar ist. (vgl. Dornes 1997, 269f).
(11) Eine ausführliche
Zusammenfassung, wie die Entwicklung hin zum Serienmörder abläuft, findet sich in Stephan Harbort.
(2009, 299ff).
(12) Die Unterscheidung
zwischen einem subjektiven, moralischen und einem objektiven, ethischen
beziehungsweise juristischen Schuldbegriff führt zur Unterscheidung zwischen
Schuld- und Reuegefühlen. Reuegefühle sind ein wichtiger Anstoßgeber für die
persönliche Weiterentwicklung, Schuldgefühle dagegen stehen ihr im Weg. Die
Konsequenzen dieses Unterschieds beschreibt die Psychologin Doris Wolf:
"Während Schuldgefühle uns quälen, lähmen, unsere gesamte Energie aufbrauchen können,
fühlen wir uns mit Reuegefühlen in der Lage aktiv zu werden. Wir behalten
unsere Selbstachtung". (Wolf 1996, 12).
(13) Drei Aspekte eines
Strafsystems, das sich nicht auf die These der Willensfreiheit stützt, sind
erstens die Funktion der Strafe, zweitens der Umgang mit dem Täter, drittens
die Bedeutung der Verbrechensprävention. (vgl. Schmidt-Salomon 2009, 281ff).
(14) Z. B. im
Johannisevangelium (Joh. 8,44) sprach Jesus zu den
Juden: "Ihr stammt vom Teufel, er ist euer Vater, und ihr wollt tun, was euer
Vater will. Er war ein Mörder von Anfang an und steht nicht in der Wahrheit,
weil keine Wahrheit in ihm ist. Wenn er lügt, sagt er das, was ihm eigen ist;
denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge". (Katholische Bibelanstalt
1973).
(15) Und weil die Vorherbestimmtheit
an und für sich kein Übel ist, kann auch die Vorherbestimmtheit unserer freien
Entscheidung kein Übel sein." Auch der darauf folgende Dialog in Bieris Buch nimmt zu diesem Thema Bezug. (vgl. Bieri 2009, 315ff).
(16) "Ein Verlust der
Urheberschaft wäre gleichbedeutend mit einem Verlust der Freiheit." (Bieri 2009, 193).
(17) Darauf weist
insbesondere Georg H. Mead hin. (vgl. 1968, 180).
(18) Siehe Bernhard
Kegel: Epigenetik. Wie Erfahrungen vererbt werden.
(2009).
(19) "Allein die
Vorstellung, wer wir hätten sein können, wenn wir woanders gelebt hätten, in
einem anderen Land, einem anderen Klima, einer anderen Sprache, vermag unsere
Identität zu ändern." (Bieri 2009, 70).
Der starke Einfluss, den die Kultur auf die Identität eines
Menschen ausüben kann, wird auch im folgenden Absatz aus Andy Clark und David
J. Calmers in "Der erweiterte Geist (The extended mind)"
aus Thomas Metzingers Grundkurs Philosophie des Geistes Band 3, (2010, 516)
ersichtlich:
"Es könnte zum Beispiel sein, dass die Beeinträchtigung der
Umwelt einer Person in einigen Fällen dieselbe moralische Bedeutung haben wird
wie die Beeinträchtigung der Person selbst. Und wenn man diese Sichtweise ernst
nimmt, kann man bestimmte Formen sozialer Aktivität weniger als etwas
betrachten, das Kommunikation und Handeln ähnelt, sondern vielmehr als etwas,
das Denken ähnelt."
(20) Siehe Memoiren von
Schein Elyse und Bernstein Paula: Identical
Strangers. (2007).
(21) Wegbereiter für eine
Theorie des Bewusstseins ist der französische Neurowissenschaftler Stanislas Dehaene. Dabei greift er auf die Signaturen eines
bewussten Gedankens zurück. (vgl. Dehaene 2014).
(22) Eine ausführliche
Untersuchung über das menschliche Erleben im Hier und Jetzt gibt uns Eva Ruhnau
in ihrem Aufsatz "Zeit-Gestalt und Beobachter; Betrachtung des tertium datur des Bewusstseins",
enthalten in Thomas Metzinger: Bewusstsein. Beiträge aus der
Gegenwartsphilosophie. (2005, 201ff).
Sie führt darin an: "Das Gehirn schafft sich und
strukturiert durch adirektionale zeitliche Zonen oder
Gleichzeitigkeitsfenster. Bezogen auf die Außenzeit erscheinen solche
"Zeitfenster" als Zeitquanten, deren Dauer (etwa 30-40 msec)
kennzeichnend für das System ist und die auf gleicher funktionaler Ebene in der
Regel nicht unterschritten werden kann". Weiters: "Zeitliche Integration
aufeinanderfolgender Zeitfenster - Jetzt: Hier weist eine Reihe experimenteller
Daten auf einen Prozess, der mehrere Gleichzeitigkeitsfenster (von 30 msec Dauer) bis zu einer Dauer von etwa 3 sec automatisch
zu Wahrnehmungseinheiten aufintegriert. Ein derartiger Prozess bietet die
formale Basis des erlebten subjektiven "Jetzt". Werden im psychophysischen
Experiment zwei Reizintensitäten miteinander verglichen, so müssen sie
innerhalb eines Fensters von 2-3 sec angeboten werden, damit es zu sinnvollen
Aussagen kommt. Experimente, in denen vorgegebene Zeitdauern reproduziert
werden, zeigen ein Überschätzen kurzer zeitlicher Intervalle, und ein Unterschätzen
längerer Intervalle. Das Indifferenzintervall, d.h. diejenige Zeitdauer, die am
besten reproduziert wird, liegt bei etwa 3 sec. Zeitsegmente bis zur Länge des
Indifferenzintervalls werden ebenso in der Sprachverarbeitung oder in der
zeitlichen Organisation intentionaler Akte beobachtet. All dies zeigt deutlich,
dass das bewusste Jetzt sprach- und kulturunabhängig etwa 3 sec zu betragen
scheint. Dieses Jetzt ist damit kein Punkt, sondern besitzt eine Ausdehnung von
etwa 3 sec." (2005, 204f).
Weiters berichtet Eva Ruhnau davon, dass die Verfügbarkeit
von Informationen im Gehirn periodisch als gleichzeitig bewertet werden muss.
"Eine Reihe von Experimenten der letzten Jahre weisen nun tatsächlich durch
Reize hervorgerufene rhythmische Synchronisation von Nervenzellen im
Gammawellenbereich (30-60 Hz) nach." (2005, 208).
(23) "Phänomenales
Selbstmodell", "Bewusstseins-Tunnel", Ego und Innerlichkeit werden ausführlich
beschrieben in Thomas Metzinger. (2009a, 18f; 25; 154).
(24) Bewusstsein und
menschliches Erleben als Funktionalität des menschlichen Gehirns wird als
"durch neuronale Strukturen periodisch gleichzeitig verfügbar machen einer
großer Anzahl von vorselektierten und vorbewerteten
Informationen" verstanden. Es wird davon ausgegangen, dass eine sinnvolle
Bewertung einer Situation oder einer Sache nur dann vorgenommen werden kann,
wenn eine große Anzahl von Teilinformationen oszillatorisch gleichzeitig
verfügbar ist, und diese Informationen in Beziehung gestellt werden können.
Wesentlicher Bestandteil sind dabei vorbewertete
neuronale Informationen, die z. B. für das Gefühls-, Schmerz,- und
Farbempfinden zuständig sind, weil evolutionär und für das Überleben des
Menschen besonders bedeutsam. Und dieses
umfassende gleichzeitige Verfügbar-Sein und In-Beziehung-Stellen-Können
von Informationen wird als "Bewusstsein" verstanden. Ein "Zombie", also ein
Wesen, das zwar die gleiche Bewertungsstruktur und damit einen "Verstand"
hätte, aber gleichzeitig kein Bewusstsein haben würde, wird somit undenkbar.
Ein Bewusstsein ohne materielle Basis ist undenkbar.
Allerdings kann das Resultat eines bewussten Aktes nicht materiell erklärt
werden.
Thomas Metzinger beschreibt in seinem Buch Der Ego-Tunnel
(2009a) bewusstes Erleben als einen von der Evolution
geschaffenen "virtuellen Tunnel durch die Wirklichkeit", das mit der
Wirklichkeit nur wenig zu tun hat. Das "Ich" ist demnach keine selbständige
Realität, es ist eine Erscheinung des menschlichen Gehirns. Erkenntnisgewinn
und Wissen über die Außenwelt wird nur durch die Bildung wissenschaftlicher
Gemeinschaften möglich, die Theorien entwerfen und sich dabei fortwährend
überprüfen.
Weiters möchte ich gerne auf Rupert Riedls Buch Biologie der
Erkenntnis verweisen, in der im Bereich des Lebendigen die These von 4
Wirkursachen vertreten wird. In (1981, 165) wird hervorragend argumentiert,
dass im Wirkungsbereich des Lebendigen die Antriebsursache durchgängig als
Kraft, die Finalursache im Organischen durchgehend als Zweck, und Material- und
Formursachen von Schicht zu Schicht wirken.
Wohl bemerkt, die Finalursache wird nicht als teleologische
Ursache verstanden, die aus der Zeitachse wirkt, sondern als teleonomische Ursache, die in der Wirkrichtung des
Schichtenbaus bei komplexen organischen Systemen im Sinne eines Erklärungsmodells
wirkt. Dadurch werden Gründe verständlich gemacht ohne auf materielle Ursachen
verzichten zu müssen. Genauso, wie es meines Erachtens nicht möglich sein wird,
Qualia, also Farbempfinden, Schmerz oder Gefühle
"materiell" zu erklären. Hier vertritt Riedl die These, dass in der
biologischen Evolution große Quantitäten zu neuen Qualitäten führen, die im
Schichtsystem des Organischen nicht allein durch die Antriebs- und
Materialursache erklärt werden können. Man wird zur ausreichenden Erklärung
also zusätzlich Zweck- und Formursache benötigen.
Beim menschlichen Gehirn könnte die Zweckursache zum
menschlichen Bewusstsein mit Verstand und Gefühlsempfindung, die Formursache
zur oszillatorisch getriggerten Bereitstellung einer Vielzahl von bewerteten
Informationseinheiten geführt haben.
(25) Siehe Aufsatz von
Dieter Birnbacher: "Künstliches Bewusstsein" in
Thomas Metzinger: Bewusstsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie.
(Metzinger 2005, 713ff).
Eine umfangreiche Abhandlung zum Thema künstliche
Intelligenz mit den möglichen Auswirkungen auf die Menschheit findet sich in
Nick Bostrom: Superintelligenz. Szenarien einer kommenden Revolution. (2014)
(26) Weitere Beispiele
dafür, wie umfangreich sich unsere Identität durch geänderte Umstände
entwickeln könnte, siehe Michael Schmidt-Salomon. (2009, 274).
(27) Die Erkenntnis, dass
all die Eigenschaften, die dem "Ich" zugeschrieben werden, letztlich nur im
Kontext des Weltganzen zu begreifen sind, und dadurch zur Desillusionierung des
autarken "Ichs" führt, kann zu einer extremen Variante des Flow-Erlebnisses
führen. (vgl. Schmidt-Salomon 2009, 244).
Einen wunderbaren Zugang zu diesem Thema gibt uns Thich Nhat Hanh
in seinem Buch: Körper und Geist in Harmonie: Die Heilkraft buddhistischer
Psychologie. (2009).
Thomashoff kommt in seinem Buch
Versuchung des Bösen zu dem Schluss, dass dieser "Flow"
durch die Abschaltung der Areale im frontalen Großhirn zustande kommt, die für
die Selbstwahrnehmung erforderlich sind. (2009, 61).
(28) Hinweise zur Mystik
des Einsseins finden sich z. B. im Johannesevangelium. In Joh.
14.17-20 spricht Jesus zu den Aposteln: "Es ist der Geist der Wahrheit, den die
Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr kennt
ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird. Ich werde euch nicht
verweist zurücklassen, sondern ich komme zu euch. Nur noch kurze Zeit wird
vergehen, und die Welt sieht mich nicht mehr; aber ihr seht mich, weil ich
lebe, und weil auch ihr leben werdet. An jenem Tag werdet ihr erkennen: Ich bin
in meinem Vater, ihr seid in mir, und ich bin in euch." Jesus sprach in diesem
Zusammenhang von seiner Auferstehung. (vgl. Katholische Bibelanstalt 1973).
(29) Als ein großes
Geheimnis lehren die Brahmanen die Mystik des Eins-Seins der Seelen aller Wesen
und aller Dinge mit der All-Seele. Dieser Mystik zufolge gehört alles Seelische
der All-Seele an. Der Mensch trägt die All-Seele in sich. Und weil die
All-Seele allem Sein innewohnt, findet er sein Selbst in allem Sein wieder, in
dem der Pflanzen wie in dem der Götter. Dies ist der Sinn der berühmten "Tat tvam asi" (Das bist du selbst)
der Upanishad's. Im Kaivalaya
Upanishad steht: "Wer in allen Wesen sich und sich in
allen Wesen sieht, der geht, nicht aus einem anderen Grunde, in das höchste
Brahman ein." Entnommen aus Albert Schweitzer: Die Weltanschauung der indischen
Denker. (1965, 26).
(30) Siehe das Buch: The wild boy from
Aveyron von J.M.G. Itard
(1932), der den Jungen selbst aufzog.
(31) Stellvertretend für
viele andere Autoren sei Hans-Christoph Koller erwähnt. Hans-Christoph Koller:
Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Eine
Einführung. (2014).
(32) Vor allem ist es der
Soziologe Emile Durkheim, der in einer äußerst umfangreichen Studie über den
Selbstmord zeigt, wie notwendig der Mensch der sozialen Integration bedarf.
In seinem Buch Der Selbstmord untersucht Durkheim unter
Heranziehung statistischen Materials die unterschiedlichen Selbstmordraten bei
Katholiken, Protestanten und Juden. Er weist nach, dass die Selbstmordrate bei
Protestanten am höchsten ist und schließt daraus, dass die katholische Kirche
stärker integrierend ist als die protestantischen Kirchen. Für die Juden stellt
er fest, dass die Verfolgung sie einen Solidaritätssinn entwickeln ließ.
Weiters findet Durkheim einen Zusammenhang zwischen
Selbstmordrate und wirtschaftlichen Krisen. In Perioden wirtschaftlicher Krisen
steigt die Selbstmordrate an. Die Selbstmordrate steigt jedoch auch in Zeiten
wirtschaftlichen Aufschwungs. In Situationen, in denen das Individuum durch die
Gesellschaft stark beansprucht wird, z.B. in Kriegszeiten, sinkt die
Selbstmordrate ab. In Perioden der gesellschaftlichen Desintegration, wenn die
Bindung des Individuums an seine Gruppe und an die Gesellschaft ganz allgemein
schwächer wird, entsteht eine Krisensituation. Der entscheidende Faktor ist,
dass das Individuum in Perioden wirtschaftlicher Krisen vielleicht gegen seinen
eigenen Willen in Isolation gerät, während es in Perioden wirtschaftlichen
Aufschwungs möglicherweise selbst wünscht, unabhängig zu sein.
Mehr Selbstmorde gibt es auch bei männlichem Geschlecht, im
zunehmenden Alter, bei Verwitweten, Unverheirateten oder Geschiedenen,
Kinderlosen, hoher Bevölkerungsdichte, Wohnsitz in großen Städten, hohem
Lebensstandard, Wirtschaftskrisen, Alkoholkonsum, Kindheit in einer
zerbrochenen Familie, psychischen Störungen und physischen Erkrankungen.
Einheitlich wird ein relativer Anstieg der Rate für die
Frauen registriert, was mit ihrer dem männlichen Geschlecht angenäherten
Lebensweise sowie ihrer höheren Lebenserwartung in Verbindung gebracht wird.
Bei den Schwarzen in den USA fand man viel weniger
Selbstmorde und mehr Morde als bei den Weißen, was ein Licht auf ihre
unterschiedliche Lage wirft. Eine höhere Selbstmordrate gibt es auch bei den
Studenten. Sie ist an orthodoxen Universitäten (Oxford) am höchsten, wo
Lebensbedingungen gefordert werden, die am wenigsten mit denen von
nichtstudentischen Gleichaltrigen zu vergleichen sind. (vgl. Durkheim 1973).
(33) Diese Behauptung
kann recht gut durch die Fallstudien von wild aufgewachsenen Kindern belegt
werden. Man kennt ca. vierzig solcher Fälle. Es wird angenommen, dass man
solche Kinder entweder ausgesetzt hat, oder dass sie verloren gegangen waren.
Sie wurden dann von Wölfen, Bären, Ziegen, Schweinen, Schafen, Rindern,
Leoparden etc. aufgenommen und aufgezogen, oder sie konnten sich selbst durch
eigene Anstrengung am Leben erhalten.
Solche Kinder sind ohne Ausnahme stumm, sie bewegen sich auf
allen Vieren, haben besonders gut ausgeprägte Sinnesorgane, keinen Sinn für
Scham vor Nacktheit, und überhaupt zeigen sie keinen Sinn für Sexualität. In
ihrem ganzen Verhalten und Auftreten sind sie den Tieren sehr ähnlich. Sie
haben praktisch keine intellektuellen Fähigkeiten, und man nimmt an, dass sie
durch frühen Reizentzug unterentwickelt geblieben sind. (vgl. Anastasi 1976 Bd.
2, 115ff).
(34) Bezüglich
Gesprächskultur siehe Michael Schmidt-Salomon: Jenseits von Gut und Böse.
(2009, 266).
(35) "Wären Glück und
Sinnerfüllung tatsächlich gekoppelt an Liebe und Erkenntnis, an Achtung gegenüber
dem Leben und tiefes Wissen um die realen Zusammenhänge in der Welt, wäre die
Menschheitsgeschichte, die Summe des Glücksstrebens der Individuen, zweifellos
anders verlaufen, als sie es in Wirklichkeit ist." (Schmidt-Salomon 2009, 234).
(36) Dies entspricht etwa
der Position des "evolutionären Humanismus", beschrieben in Michael
Schmidt-Salomon: Manifest des evolutionären Humanismus. (2006).
Gerhard Streminger beschreibt im
letzten Kapitel seines Buches: Gottes Güte und die Übel der Welt, (1992, S377ff)
einen Ansatz für die aktive Leidminderung und eine Skizze vom guten Leben. Dazu
einige Eckpunkte:
- Umverteilung
des Reichtums von den reichen zu den armen Ländern
- Geburtenregelung
- eine
Lebensform, bei der die Bewohner reicher Länder mit weniger Gebrauchsgütern
besser zu leben verstehen
- die rechten
Erwartungen an das Leben stellen. Viele der besten Dinge des Lebens sind
umsonst.
- eine
schonende Nutzung der Ressourcen der Natur
- Vermeiden
einer falschen Moral, die das Leben erschwert, indem sie z.B. die Vernunft
verteufelt, Unwissenheit als Tugend preist, Neugierde als Sünde hinstellt, den
Eros verteufelt
- Vermeiden
einer Scheinwirklichkeit, die das Leid des Menschen fördert. Dazu gehören
imaginäre Ursachen wie Gott, Seele, Ego, Geist, freier Wille, Sünde sowie
imaginäre Wirkungen wie Sünde, Erlösung, Gnade, Strafe, Vergebung der Sünde.
[Anmerkung des Autors: Aus meiner Sicht könnte anstatt
imaginäre Ursachen und Wirkungen auch unreflektierte Ursachen und Wirkungen
stehen.]
(37) Mereologie :
Wissenschaft, die sich mit dem Verhältnis von Teil und Ganzem beschäftigt.
|