Nachfolgend wird der Versuch einer Standortbestimmung des
Textes SELBSTBESTIMMT - Gedanken über unser Selbstverständnis unternommen.
Es wird ein Naheverhältnis zu folgenden
erkenntnistheoretischen, philosophischen und weltanschaulichen Positionen
angenommen:
"Hypothetischer
Realismus" Er geht davon aus, dass es mindestens eine vom Menschen unabhängige
Realität gibt, diese Realität eine Struktur hat, wonach kausale Relationen
(Ursache-Wirkungs-Beziehungen) objektiv existieren, und diese realen Strukturen
zumindest teilweise erkennbar sind. (Struktureller Realismus).
"Nicht-reduktiver
Physikalismus" Alle real existierenden Phänomene haben eine physikalische
Grundlage. Die Erklärbarkeit von Phänomenen kann allerdings nicht
ausschließlich mit physikalischem Vokabular erfolgen. Bei komplexen Systemen
und im Bereich des Lebendigen muss unterschieden werden, ob eine kausale
Ursache, oder dessen Zweck von Interesse ist. Eine Unterscheidung in Ursachen
und Gründen wird dadurch erforderlich. Im Bereich des Lebendigen werden Zwecke
oder Gründe zumeist die besseren Erklärungen liefern, im Bereich des Bewussten
sind es beinahe ausschließlich Gründe, die einen Erklärungswert liefern können.
Bernd Lindemann bezieht sich in seinem Buch Mechanisms in
World and Mind (2014) auf die
Systemtheorie und führt an, dass im Stufenmodell der Systemtheorie Kausalität
nur von der unteren Ebene zur oberen Ebene wirken kann. Eine umgekehrte
Wirkrichtung sei nicht möglich. Anbei nach meiner Interpretation einige
Eckpunkte seiner Thesen: Kausalität findet tatsächlich nur auf einer
physikalischen Null-Ebene statt, und zur besseren Veranschaulichung
werden allumfassende Systemebenen eingeführt. Die verschiedenen Ebenen sind
durch Identität verbunden. Aus pragmatischen Gründen wählt man diejenige Ebene
als Basis aus, die eine Kausalbeziehung oder eine konstitutive Beziehung
bestmöglich veranschaulichen kann. Die Systemtheorie dient somit zur besseren
Veranschaulichung wegen unserem begrenzten Vorstellungsvermögen. Materielles
(Concreta) und Virtuelles (Abstracta) sind verschiedene Kategorien. Abstrakta
können nicht kausal wirken. Materielle Objekte können in Raum und Zeit
lokalisiert werden und kausal verkettet sein. Virtuelles wie Gedanken, Pläne
und Symbole, aber auch Zwecke und Gründe, sind immateriell und damit nicht im
Raum lokalisierbar und können daher auch nicht kausal wirken. Gedanken sind
sowohl Concreta als auch Abstracta. Ihre Inhalte existieren außerhalb der
Materie als Abstracta, haben aber eine konkrete neuronale Basis, von der sie
abhängen. Bewusstsein "superveniert" über ihre neuronale Basis. Die Kausalkette
in der konkreten Basis bewirkt, dass die Neurone feuern, dass eine
Willkürbewegung eingeleitet wird. Wirken unter bestimmten Rahmenbedingungen
viele Neuronen strukturiert zusammen, so schafft dies also auf materieller
Basis eine neue Ebene, die über der Ebene der Neuronen liegt. Entsprechend der
Systemtheorie ist die auf der oberen Stufe befindliche Systemeigenschaft "mehr"
als die Summe der Eigenschaften auf der unteren Stufe. Trotzdem sind diese
höheren Systemeigenschaften ausgehend von der physikalischen Nullebene über
mehrere Stufen hinauf ausschließlich physikalisch realisiert. Die Erklärbarkeit
nimmt wegen unseres begrenzten Vorstellungsvermögens zunehmend ab, je mehr
Ebenen in eine Erklärung einbezogen werden.
Ergänzend bin ich der Meinung, dass grundsätzlich nichts
dagegen sprechen sollte, dass bestimmte neuronale Prozesse als
Kommunikationsprozesse im Erlebnisformat interpretiert werden dürfen, die
während des Reflektierens, oder z. B. während eines Traumes im Schlaf, von
externen Sinnesempfindungen entkoppelt sind. Ihr Zweck ist das Konstituieren
des Mentalen. Die neuronalen Prozesse fungieren dabei nur als Mittel zum Zweck.
Derart verstanden würden derartige neuronale Prozesse nur als "Träger" für alle
mentalen Fähigkeiten dienen, so z. B. auch dem Reflektieren. Ein ähnliches
Beispiel wäre eine Telefonleitung, die als "Träger" zur Übermittlung der
Sprache nur Mittel zum Zweck ist. Bei einem solchen Verständnis ist eine
kausale Determination des "Trägers" keineswegs bedenklich, sondern umgekehrt
ein Erfordernis für sein gutes Funktionieren. Der Inhalt des Erlebnisformates
wird dabei z. B. beim Reflektieren nicht von einem externen kausalen Einfluss
gesteuert, sondern unterliegt ausschließlich dem internen Kommunikationsfluss.
Bezüglich der Naturalismusdebatte bedeutet dies, dass
mentale Fähigkeiten zwar als neuronal realisiert gedacht werden können, und mit
dem Vokabular der Naturwissenschaften z. B. mittels Neuroimagebilder, wenn auch
nur sehr vage, beschrieben werden können. Für Erklärungen und zur Vermittlung
des Gefühls, "wie sich etwas anfühlt" würde sich das Vokabular der
Naturwissenschaften nur wenig bis gar nicht eignen. Der französische
Neurowissenschafter Stanislas Dehaene erläutert in seinem Buch Denken - Wie das
Gehirn Bewusstsein schafft (2014), wie anhand von Neuroimagebilder auf
Bewusstseinsinhalte geschlossen werden kann.
Laut Bernard J. Baars (2009) ist Zweck des Bewusstseins,
dass bereits auf neuronaler Ebene für das Überleben wichtige
Umweltinformationen, aber auch autobiografisches Wissen, auf einer
"Arbeitsbühne" parallel und gleichzeitig verfügbar sind, Assoziationen möglich
werden, und damit schnell und wirkungsvoll auf neue Umweltbedingungen reagiert
werden kann. Demnach dient Bewusstsein zur internen Kommunikation.
Qualia, also Farbempfinden, Schmerz oder Gefühle, liefern
auf dieser Arbeitsbühne einen wichtigen Beitrag über das Wohlbefinden und
wurden daher ebenfalls im Laufe der Evolution neuronal realisiert.
Versuch einer Definition von Bewusstsein, Erleben, Geist,
Verstand: Bewusstsein und menschliches Erleben als Funktionalität des
menschlichen Gehirns wird als "durch neuronale Strukturen periodisch
gleichzeitig verfügbar machen einer großer Anzahl von vorselektierten und
vorbewerteten Informationen" verstanden. Es wird davon ausgegangen, dass eine
sinnvolle Bewertung einer Situation oder einer Sache nur dann vorgenommen
werden kann, wenn eine große Anzahl von Teilinformationen oszillatorisch
gleichzeitig verfügbar ist, und diese Informationen in Beziehung gestellt
werden können. Wesentliche Bestandteile sind dabei vorbewertete neuronale
Informationen, die z. B. für das Gefühls-, Schmerz,- und Farbempfinden
zuständig sind, weil evolutionär und für das Überleben des Menschen besonders
bedeutsam (die biologische Evolution muss einen sehr starken Selektionsdruck
auf das Herausbilden von handlungsrelevanten Mechanismen ausgeübt haben.
Gefühle, Empfindungen und Triebe werden daher als das Produkt von evolutionären
Bewertungen in unserem Gehirn angenommen).
Und dieses umfassende gleichzeitige verfügbar sein und in Beziehung
stellen können von Informationen wird als Bewusstsein verstanden. Ein
philosophischer Zombie, also ein Wesen, das zwar die gleiche Bewertungsstruktur
und damit einen Verstand hätte, aber gleichzeitig kein Bewusstsein haben würde,
wird somit undenkbar. Handeln, also ein schnelles und übersichtliches Reagieren
auf komplexe Situationen, ist nur mittels Bewusstsein bewerkstelligbar.
Ein Bewusstsein ohne materielle Basis ist undenkbar.
Allerdings kann in vielen Fällen das Resultat eines bewussten Aktes besser
verstanden werden, wenn nach Zwecken gesucht wird.
Besonders erwähnt werden soll in diesem Zusammenhang noch
"Die Hypothese der Interaktion zwischen dem selbstbewussten Geist und dem
Liaison-Gehirn" von Karl R. Popper und John C. Eccles, niedergeschrieben in Das
Ich und sein Gehirn. Im gleichnamigen Buch (1989) stellen sie gemeinsam die
Drei-Welten-Theorie vor.
Meine Sichtweise zu Eccles Hypothese lautet, dass eine
spezifische Erregung des sehr komplexen, funktional aus unterschiedlichsten
Zentren bestehenden und vernetzten Liaison-Gehirns notwendigerweise
Bewusstsein darstellt. Ist es nicht eher unvorstellbar, dass eine derart umfangreiche
und bewertete Informationsfülle, die gleichzeitig durch ein getaktetes System
vernetzt und rückgekoppelt mit abrufbaren Gedächtnisinhalten
unterschiedlichster Art zur Verfügung steht, ohne Bewusstsein ist? Ich denke
die Funktionalität eines solchen Systems ist mit Bewusstsein identisch. Im
Sinne der Supervenienz treten hier sukzessive neue Eigenschaften auf.
Supervenieren kann dabei mit "davon abhängen" übersetzt werden.
Weitere Bezüge zu diesem Thema von Stanislas Dehaene, der in
seinem Buch Denken - Wie das Gehirn Bewusstsein schafft (2014) Wegbereiter für
eine Theorie des Bewusstseins ist.
"Evolutionäre
Erkenntnistheorie" Diese erkenntnistheoretische Position spielt im Bereich des
Lebendigen eine Rolle. Es wird Bezug auf die Arbeiten des Physikers und
Philosophen Gerhard Vollmer und des Meeresbiologen und Erkenntnistheoretikers
Rupert Riedl genommen. Rupert Riedl vertritt in seinem Buch Biologie der
Erkenntnis (1981) die These von 4 Wirkrichtungen. Er argumentiert, dass im
Bereich des Lebendigen die Antriebsursache durchgängig als Kraft, die
Finalursache im Organischen durchgehend als Zweck, und Material- und
Formursachen von Schicht zu Schicht wirken. Wohlgemerkt, die Finalursache wird
nicht als teleologische Ursache verstanden, die aus der Zeitachse wirkt,
sondern als teleonomische Ursache, die in der Wirkrichtung des Schichtenbaus
bei komplexen organischen Systemen im Sinne eines Erklärungsmodells wirkt.
Dadurch werden Gründe verständlich gemacht, ohne auf materielle Ursachen
verzichten zu müssen.
Ergänzt sei noch folgender Auszug aus Die Strategie der
Genesis von Rupert Riedl (1980, 311):
Wahrscheinlich enthält diese Welt nur eine einzige causa.
Aber mit der Komplexität der Dinge erscheint sie uns in unterschiedlicher
Weise. Zwar mag die Mauer eines Hauses nur eine Wirkung tun; aber in ihrer
Wirkrichtung nach der nächsthöheren Schicht erscheint uns diese als
Materialursache der gebauten Räume. In ihrer Wirkung nach der nächstniederen
erscheint sie uns als Formursache der selektierten Bausteine. Sie erscheint uns
als die causa materialis und formalis ihrer Schicht. Der philosophische
Materialismus scheitert in dem Versuch, alle Ursachen nur von den tieferen, den
materialen Ursachen, der Idealismus daran, alle Ursachen nur von den höheren, formgebenden Schichten aus zu sehen. Beide sind durch ihr
exklusives Kausalitätsprinzip behindert. Das Verständnis von Systemen aber
schreibt vor, Kreisläufe anzuerkennen, ursächliche Wechselwirkung, die sie erst
zu Systemen macht.
"Prozessphilosophie
der Biologie": Im Mittelpunkt dieser Philosophie wird alles Leben als Prozess
aufgefasst. Eine Person ist eine lebensweltliche Einheit aus subjektiver
Selbsterfahrung und systemischer Biologie, sie ist eine verkörperte und
ausgedehnte Subjektivität (embodied und extended mind). Daraus geben sich
Schlussfolgerung für eine Theorie der Person. Es werden Positionen von den
Philosophen Marya Schechtmann (2014) und Anne Sophie Meincke (2019) vertreten.
Bieri-Trilemma:
1. Mentale
Phänomene sind nicht-physische Phänomene
2. Mentale
Phänomene sind im Bereich physischer Phänomene kausal wirksam
3. Der Bereich
physischer Phänomene ist kausal geschlossen
Dieses Trilemma beinhaltet das Problem der mentalen
Verursachung. Ein Lösungsvorschlag ergibt sich aus oben angeführten
Überlegungen: Satz (2) muss so umformuliert werden, dass mentale Phänomene
physisch konstituiert sind und daher kausal wirksam sind. Desgleichen muss Satz
(1) so umformuliert werden, dass mentale Phänomene physisch konstituierte
Phänomene sind. Satz (3) ist somit gültig.
"Kompatibilismus" Es
wird eine Vereinbarkeit von freien Willen und Determinismus angenommen. Es wird
auf die Positionen der Philosophen Peter Bieri (2009), Michael Pauen (2008) und
des Sozialwissenschaftlers und Philosophen Michael Schmidt Salomon (2009) Bezug
genommen. Demnach hängt Freiheit davon ab, ob eine Handlung durch ihren Urheber
selbst bestimmt wird oder ob sie sich auf andere, der Person nicht
zuschreibbare Faktoren zurückführen lässt. Ein Verlaufsdeterminismus, der aus
einem gegebenem Weltzustand alle künftigen Weltzustände eindeutig
vorausbestimmt, wird hier nicht vertreten, da dieser keine vertretbare Position
der aktuellen Physik darstellt. In der Teilchenphysik sind gewisse Vorkommnisse
rein zufällig. Weiters zeigt bereits das Euromillionenspiel, dass beinahe
identische Zustände nach kürzester Zeit Zufall bedingen. Ferner gilt als
allgemein anerkannt, dass nichtlineare komplexe
dynamische Strukturen nicht nur wegen des enormen erforderlichen
Rechenbedarfes, sondern vom Prinzip her hinsichtlich ihrer zukünftigen
Entwicklung offen und nicht vorhersagbar sind, und dies gilt selbst dann, wenn
alle Ausgangsbedingungen vollständig bekannt sind. Man denke an eine komplexe
Software, die für ihre Optimierung in Abhängigkeit einer großen Anzahl von
Parametern durch Zufall ihre eigene Struktur ändert und durch Versuch und
Irrtum die bestgeeignete Struktur ermittelt.
Der Text "SELBSTBESTIMMT - Gedanken über unser
Selbstverständnis" sieht sich insgesamt weltanschaulich der Position des
"evolutionären Humanismus" verpflichtet. Dazu sei der Sozialwissenschaftler und
Philosoph Michael Schmidt-Salomon (2006) genannt. In einer solchen
Weltanschauung gibt es weder Platz für Dogmen - also der Kritik unzugänglich
gemachte und nicht hinterfragbare, auf Ideologie oder Universalismus beruhende
Lehrsätze, stammend aus Religionen, überlieferten Wertvorstellungen,
nichtüberprüfbaren Prinzipien oder irgendwelchen philosophischen Konstrukten -
noch für einen Relativismus, der den humanistischen Prinzipien entgegen
wirkenden Weltanschauungen nichts entgegenzusetzen vermag.
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