Alles Leben ist in der Natur verbunden und zutiefst
voneinander abhängig, und dieses Prinzip gilt in noch viel höherem Ausmaß für
den Menschen. Kinder, wie der mit wilden Tieren aufgewachsene Junge von Aveyron (30)
, oder der in totaler Isolation aufgewachsene Kaspar Hauser, zeigen, dass bei
jahrelang fehlendem menschlichen Kontakt, während der Kindheit, die Entwicklung
vieler menschlicher Fähigkeiten verhindert werden. Der Mensch bedarf zu seiner
Entfaltung und zu seinem Wohlbefinden unausweichlich der sozialen Integration
in einer Gemeinschaft. (31) Immer dann, wenn
diese soziale Integration fehlt, wenn also jemand in keiner Gemeinschaft
akzeptiert wird, entwickeln sich Neurosen und Psychosen. Umfangreiche
Untersuchungen belegen, dass Desintegration zu Selbstmord (32) oder Mord führen kann.
Die bereits mit 19 Monaten taubblinde Helen Keller konnte
trotz ihrer nur schwer vorstellbaren Behinderung dank besonders umfangreicher
Unterstützung Intellekt und Sprache entwickeln und sogar ihre
schriftstellerische Begabung als Autorin beweisen. Im Gegensatz dazu können
Kinder trotz fehlender körperlicher Mängel in Isolation kaum einen Intellekt
entfalten. (33)
Abgesehen von der insbesondere für die Kindheit notwendigen
familiären Gemeinschaft ist es sekundär, welche Art von Gemeinschaft die
soziale Integration ermöglicht: Religionen, Nationen, alle Arten von Vereinen,
politische Organisationen, und Wirtschafts- und Interessensgemeinschaften
dienen diesem Zweck. In früheren Zeiten war es die Stammesgemeinschaft, der
Clan, die Sippe. Wappen oder Totems waren die hochgeachteten Symbole für diese
Zusammengehörigkeit.
Dort, wo sich Menschen in ihrer Selbstbestimmung
wiederfinden, fühlen sie sich auch verbunden. Dort, wo sie Illusionen und
Vereinnahmungen unterliegen, werden sie Probleme und Differenzen haben.
Jede Person sammelt Erfahrungen und gelangt zu
Erkenntnissen. In einem konstruktiven Zusammenleben kann man gemeinsam an sich
arbeiten, sich derart gegenseitig zu neuen Erkenntnissen verhelfen und damit
zur Selbstverwirklichung beitragen. Vertrauen, Offenheit, Ehrlichkeit, aber
auch eine gute Gesprächskultur, bei der man sich offen und unzensuriert
einbringen kann, ohne dabei den anderen zu erniedrigen oder vom anderen
erniedrigt zu werden, sind unabdingbar. (34)
Auch wenn man ständig an der Verringerung der negativen
Einflüsse arbeitet können sie wegen unserer Begrenztheit nicht ganz verhindert
werden. Vorurteile, Irrtümer, Irrlehren, Manipulationen und Neurosen wird es in
unserem menschlichen Miteinander wohl immer geben.
Daher wird es auch immer Bereiche geben, in denen wir uns nicht
wiederfinden können. Nur die Liebe kann uns darüber hinweghelfen. Ohne Liebe
bleibt dem Menschen ein glückvolles Leben versagt. (35)
Es ist also an der Zeit, dass wir uns unserer Brüderlichkeit
sowohl im Großen wie auch im Kleinen bewusst werden. Nur derart können wir uns
entfalten und uns auch selbst verwirklichen. Akzeptiert man die Tatsache, dass
unsere Mitmenschen unser eigenes Leben ausmachen, so wird es auch mehr
Verständnis und weniger Schuldzuweisung geben.
Daher ist die Herausforderung unserer Zeit, eine
Gemeinschaft zu bilden, in der die Einheit der Welt anerkannt wird, und das
Zusammenleben nach globalen humanistischen Prinzipien erfolgt. In einer solchen
Weltanschauung gibt es weder Platz für Dogmen, also der Kritik unzugänglich
gemachte und nicht hinterfragbare, auf Ideologie oder Universalismus beruhende
Lehrsätze, stammend aus Religionen, überlieferten Wertvorstellungen,
nichtüberprüfbaren Prinzipien oder irgendwelchen philosophischen Konstrukten,
noch für einen Relativismus, der den globalen humanistischen Prinzipien
entgegen wirkenden Weltanschauungen nichts entgegenzusetzen vermag. (36)
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