Es mag aufgeworfen werden, dass sich die Frage nach diesem
Begriff überhaupt nicht stellt. Sind wir zumindest in unserem Inneren nicht von
Natur aus selbstbestimmt? Ist unser eigener Körper bzw. unser eigener Wille
nicht der Garant dafür? Es scheint so zu sein, denn wir haben das Gefühl, dass
Körper und Wille nur uns selbst gehören. Nur wir selbst verfügen über sie.
Können wir uns auf dieses Gefühl verlassen?
Im Duden (www.duden.de, abgefragt 2019 08 19) steht
"selbstbestimmt" für "eigenständig, eigenverantwortlich, nach eigenem Willen",
und "Selbstbestimmung" für a) "Unabhängigkeit des bzw. der Einzelnen von jeder
Art der Fremdbestimmung (z.B. durch gesellschaftliche Zwänge, staatliche
Gewalt)", für b) "Unabhängigkeit des Individuum von eigenen Trieben, Begierden
u. Ä.", sowie für c) "Unabhängigkeit eines Volkes von anderen Staaten und die
Unabhängigkeit im innerstaatlichen Bereich".
Wie bereits durch den Duden nahe gelegt, ist in diesem Essay
nicht die instinktgetriebene Freiheit eines Vogels oder der naturgegebene
Lebenswille eines Babys gemeint, ebensowenig das selbstbezogene Verhalten eines
Egoisten oder die ungezügelte Macht eines Despoten.
Wenn wir Menschen von Selbstbestimmtheit sprechen, so können
wir darunter verstehen, dass wir selbst über unser Wollen und Handeln
bestimmen. Abhängig von Kultur und persönlichem Umfeld werden jedem Menschen
Freiräume eingeräumt, aber auch Grenzen auferlegt. Wir benötigen zu unserer
Entfaltung ein soziales Umfeld, bei dem Erziehung und Kultur eine besondere
Rolle spielen. Sowohl ein zu autoritärer als auch ein zu antiautoritärer
Erziehungsstiel können diese Entfaltung beeinträchtigen. Und diese Einflüsse
können zu unserer Selbstfindung beitragen oder uns auch manipulieren oder
entfremden.
Wie können wir diesen Einfluss beurteilen? Aus meiner Sicht
sollten sie einerseits den "Prinzipien der Vernunft" entsprechen und
andererseits Wahrheit vermitteln.
In diesem Sinn hat Selbstbestimmung sowohl mit einem
ausgewogenen Sozialverhalten zu tun als auch mit dem Erkennen von Gründen, mit
dem Verstehen von Abhängigkeiten, Vernetztheiten, und Zusammenhängen, mit dem
Wissen um einer großen Anzahl von möglichen Handlungsalternativen und deren
Auswirkungen oder allgemein gesagt mit dem Erkennen der Prinzipien der Vernunft
und einem gut angenäherten Wissen von der Realität. Die Realität sowie die
Prinzipien der Vernunft umfassen dabei den gesamten Einflussbereich des
Menschen, also neben der Natur alles Lebendige, insbesondere den Menschen und
seine Kultur. Vieles kann der Mensch durch eigenes Beobachten erkennen, vieles
wird durch Tradition und Erziehung vermittelt, aber nicht alles davon ist
richtig oder vernünftig. Zur Überprüfung bzw. zur Vertiefung dieses Wissens
können die Wissenschaften beitragen.
Wie noch später im Anhang in den grundlegenden
Begriffserklärungen weiter ausgeführt wird, wird angenommen, dass es Wahrheit
bzw. Annäherungen an die Wahrheit in wissenschaftlicher Hinsicht gibt, und dass
es Prinzipien der Vernunft im Sinne einer universalistischen Ethik geben
könnte. Ein Relativismus im Sinne von "alles ist wahr bzw. richtig und nichts
ist falsch" wird abgelehnt.
Bezüglich eines globalen Zusammenlebens wird davon
ausgegangen, dass sich das vernunftbegabte Wesen Mensch stetig diesen
Prinzipien der Vernunft annähern kann.
Ein dogmatischer oder ideologischer Wahrheitsbegriff wird
grundsätzlich und strikt abgelehnt. Es soll daran erinnert werden, dass im
Namen von dogmatischen Wahrheitsansprüchen die größten Grausamkeiten in unserer
Welt verübt wurden. Das Prinzip der Kritik ist von fundamentaler Bedeutung und
findet sich in der zeitgemäßen Weltanschauung des evolutionären Humanismus
wieder. Als Beispiel für eine Handlungsmaxime im Sinne einer universalistischen
Ethik könnte der kategorische Imperativ (1) gelten.
Selbstbestimmtheit hat somit sehr viel mit Hinterfragen zu
tun und ist nicht etwas, das dem Menschen einfach gegeben ist; er muss sie sich
mühsam erarbeiten. Erarbeiten, indem er Wissen erwirbt, und seinen Willen,
seine Ziele und seine Entscheidungen reflektiert. (2)
Mit unserem Willen in direktem Zusammenhang stehen unsere
Entscheidungen. Wie können wir uns den Entscheidungsvorgang vorstellen? Im
Entscheidungsprozess gibt es zwei oder mehrere Handlungsalternativen. (3) Wir
führen Bewertungen über unsere Handlungsalternativen durch und ohne Zweifel
werden wir uns für jene Alternative entscheiden, welche uns zum
Entscheidungszeitpunkt als die Beste erscheint. Situationsbedingt wird somit
die Entscheidung vorgegeben. (4)
Im Hintergrund einer Entscheidung stehen Erfahrungen,
erworbene Bildung, anerzogene Moralforderungen, Emotionen (5) , Instinkte, Triebe,
Bedürfnisse, Traumas, genetische oder krankhafte Einflüsse.
Beim Entscheidungsprozess gibt es eine gewisse Dominanz des
Emotionalen über das Rationale. Die Neurowissenschaft berichtet in diesem
Zusammenhang, "dass das limbische System, aber nicht das rationale System der
Großhirnrinde, einen direkten Zugriff auf diejenigen Systeme in unserem Gehirn
hat, welche letztendlich unser Handeln bestimmen. Das limbische System hat
gegenüber dem rationalen corticalen System das erste und das letzte Wort. Das
erste beim Entstehen unserer Wünsche und Zielvorstellungen, das letzte bei der
Entscheidung darüber, ob das, was sich Vernunft und Verstand ausgedacht haben,
jetzt und so und nicht anders getan werden soll. Der Grund hierfür ist, dass alles,
was Vernunft und Verstand als Ratschläge erteilen, für den, der eigentliche
Handlungsentscheidungen trifft, emotional akzeptabel sein muss. Es gibt also
ein rationales Abwägen von Handlungen und Alternativen und ihren jeweiligen
Konsequenzen, es gibt aber kein rein rationales Handeln. Am Ende eines noch so
langen Prozesses des Abwägens steht immer ein emotionales Für oder Wider."
(Roth 2009, 162). Sehr viele Entscheidungen nehmen uns Unterbewusstsein,
Instinkte oder Gewohnheiten ab.
Je umfangreicher und relevanter unser persönlicher
Erfahrungsschatz und das daraus abgeleitete Wissen sind, umso eher können wir
uns auch für eine Alternative entscheiden, die auch tatsächlich zum gewünschten
Ziel führt. Ist dies nicht letztendlich Selbstbestimmtheit? Sich so entscheiden
zu können, dass wir möglichst einfach, schnell und sicher zu unserem
gewünschten Ziel kommen? Aber auch, dass wir uns möglichst viele Ziele
vorstellen können, sie untereinander abzuwägen verstehen, und dass uns bei der
Wahl der Ziele sowie der Zielerreichung keine irrationalen Ängste, Zweifel oder
Schuldgefühle, Traumas oder Phobien im Wege stehen.
An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass es bei der
Entscheidungsfindung zusätzliche Faktoren geben kann, die von außen oder von
innen wirken. Von außen wirkende Faktoren sind, wenn wir in ein Gefängnis
eingesperrt, durch eine Diktatur terrorisiert, oder wegen ethnischer
Zugehörigkeit diskriminiert werden. Wird uns die Fähigkeit zum Denken und
objektiven Erleben genommen, oder plagen uns neurotische Ängste, so handelt es
sich um von innen wirkende Faktoren. Ferner sei noch angeführt, dass man die
erforderliche soziale Stellung sowie die Mittel benötigt, um die gewünschten
Handlungsoptionen auch tatsächlich umsetzen zu können.
Je mehr wir von illusionären und unvernünftigen Faktoren
abhängig sind, umso mehr werden wir im Handlungsspielraum eingeschränkt. Dazu
gehören Vorurteile, Irrtümer, Irrlehren, Manipulationen, Vereinnahmungen,
einseitige Berieselungen, Unwissen, Disharmonie, Narzissmen, Neurosen und
Psychosen. Aus diesem Grund sind sie instabil und engen uns ein.
In diesem Erklärungsmodell werden Instinkte, Triebe, Gefühle
und Unterbewusstes insofern überwiegend dem Selbstbestimmenden zugeordnet, als
sie sinnvolle Mechanismen zur Realitätsbewältigung darstellen. Es überrascht
nicht, dass sie andererseits auch kontraproduktiv und einengend sein können.
Somit ist selbstbestimmtes Handeln ein freies Handeln, was
aber nicht bedeutet, dass das Handeln unverursacht ist. Diese Betrachtungsweise
des Willens führt zu Konsequenzen, die wesentliche kulturelle und
institutionelle Einrichtungen berühren. Dies deshalb, weil ein freier Wille im
Sinne eines unbedingten oder unverursachten Willen als Ideologie oder Dogma
entlarvt wird, das der Realität nicht entspricht. Daraus folgt, dass es keine
bedingungslose Wahl zwischen Gut und Böse geben kann. Dieses Verständnis ist
keineswegs neu. Die Frage nach einem durch nichts bedingten menschlichen Willen
wurde bereits von Persönlichkeiten wie Einstein (6) , Edison, Darwin, Freud,
Schopenhauer (7) , oder Nietzsche verneint. (8)
Was sind nun die oben erwähnten Konsequenzen? Die Analyse
hat ergeben, dass jede Entscheidung seine Gründe und Ursachen hat, und somit
jeder Mensch in seiner jeweils ganz spezifischen und momentanen Situation sich
nur in einer ganz bestimmte Weise entscheiden wird. Jede Entscheidung wird also
durch die jeweiligen externen und internen Bedingungen sowie durch die
kognitiven und psychologischen Prozesse im menschlichen Bewusstsein bestimmt.
Als erste Konsequenz kann angefügt werden, dass ein
Bestimmtsein des menschlichen Wollens unser Ego ankratzen könnte. Doch sollte
eine Selbstbestimmung nicht gerade unser Ego stärken? Ein gesundes
Selbstbewusstsein bedarf deshalb keiner mysteriösen Unbestimmtheit des Willens.
Hätte als zweite Konsequenz damit die Rechtsprechung ein
Problem? Das römische Recht, welches Grundlage für viele westliche
Rechtssysteme ist, setzt die willentliche Entscheidungsfreiheit zwischen
"erlaubt" und "unerlaubt" voraus. Jede Gesellschaft benötigt Regeln, um ein
zufrieden stellendes Zusammenleben zu ermöglichen. Indem eine Gemeinde oder ein
Staat in einem Konsens solche Vereinbarungen aufstellt, wird ein geordnetes
Leben erst möglich. Diese Regeln können nur dann Sinn machen, wenn sie auch
eingehalten werden. Dies geschieht aber nur dann, wenn bei Missachtung solcher
Regeln angemessene Strafen oder Korrektive vorgesehen sind. Die Gesellschaft
muss vor einem Gewalttäter geschützt werden, und sei es nur dadurch, dass man
ihn in ein Gefängnis steckt. Daran kann und darf auch der Umstand nichts
ändern, dass der Mensch in seinen Entscheidungen bestimmt ist. Allerdings darf
niemals eine Person als die Verkörperung des Bösen gesehen werden, denn wer
kann schon die genauen Ursachen und Auslöser seines Handelns vollständig
nachvollziehen? (9)
Innerhalb kleinerer Gruppen wie z. B. innerhalb einer
Familie können die erforderlichen Regeln und Sanktionen durch liberalere Formen
ersetzt werden. Forschungsergebnisse über das Seelenleben von Schwerverbrechern,
wie z.B. im Buch "Das Serienmörder-Prinzip" von Stephan Harbort (vgl. 2009)
beschrieben, geben tiefe Einblicke in das Zustandekommen unglaublicher
Verbrechen, und machen die furchtbaren Taten teilweise nachvollziehbar. Dabei
spielt die Kindes- und Jugendzeit eine besonders große Rolle. (10)
Zerrüttete Familienverhältnisse, sexueller Missbrauch,
Alkoholismus und Gefühlskälte eines Elternteiles, Mobbing, emotionale
Zurückweisung, körperliche Züchtigung, allgemeine Vernachlässigung aber auch zu
fürsorgliches Verhalten sind entscheidende Risikofaktoren. Das daraus
resultierende Minderwertigkeitsgefühl und das verlorene Urvertrauen gemeinsam
mit schicksalhaften Faktoren und genetischen Grundlagen liefern einen hohen
Erklärungsanteil für das Entstehen von Schwerverbrechen. (11)
In der Einführung seines Buches kommt der erfahrene
Kriminalhauptkommissar aus Deutschland, der in Forschungsprojekten mit
mehreren Universitäten zusammengearbeitet hat, zur beängstigenden Aussage, dass
"der eine oder andere unter uns höchstwahrscheinlich am Ende seines Buches zur
irritierenden Schlussfolgerung gelangen wird: Der oder die könnte ich selber
sein." (Harbort 2009, 13). Andere Autoren, z. B. der österreichische
Gerichtspsychiater Reinhard Haller (2007), liefern weitere interessante
Beiträge zu diesem Thema.
Negative Konsequenzen in der Gesellschaft sind also nicht zu
erwarten, wenn man die bedingungslose Wahl zwischen Gut und Böse in Frage
stellt, wohl dagegen positive, da es den Hass zwischen den Menschen dämmt und
die Toleranz fördert. (12) Mittels einer konsequenten Ursachenforschung der
Kriminalität können die Rahmenbedingungen positiv geändert werden und somit die
Verbrechen reduziert werden. (13)
Als dritte Konsequenz hätten so manche Religionen damit ein
Problem, weil Schuldzuweisung und Drohung als Angst- und Druckmittel verwendet
wurden, und teilweise auch noch werden, wenn auch vielfach nur unterschwellig
und subtil. Die z. B. in den Evangelien beschriebene Liebe, Toleranz und
Nachsicht hätte damit weniger Probleme, allerdings kann nicht in Abrede
gestellt werden, dass auch in der Bibel die Schuldzuweisung an vielen Stellen
verankert ist, und man müsste sich von diesen Stellen distanzieren. (14) Dies ist
im derzeitigen Verständnis des Christentums schwer vorstellbar, zumindest aus
klerikaler Sicht.
Nachfolgend noch einige grundsätzliche Gedanken zur
biblischen Gottesvorstellung sowie zur Lehre von einer falsch verstandenen
Willensfreiheit. Der biblische Gott wird als allmächtig, allwissend und
allgütig beschrieben. Ist Gott allmächtig, so kann der Mensch nicht
gleichzeitig einen freien Willen haben. Hätte der Mensch einen freien Willen,
so würde die Allmacht Gottes beim Menschen enden. Ähnliches gilt für
Allwissenheit. Da der allwissende Gott schon im Vorhinein wissen müsste, wie
sich ein Mensch in Zukunft entscheiden wird, kann der Mensch nicht gleichzeitig
einen freien Willen haben. (15) Hat der Mensch aber keinen freien Willen, so sind
ewige Höllenqualen als Strafe nicht zu rechtfertigen. Dies würde einem
allgütigen Gott widersprechen.
Generell, wie vertragen sich die vielen Übel der Welt mit
einem sowohl allgütigen, als auch allmächtigen und allwissendem Gott? Warum
rettet er z. B. nicht ein kleines unschuldiges Kind, das qualvoll in einem
brennenden Haus zugrunde gehen muss? Oder wie verträgt es sich mit dem
unfassbaren Leid, das Erdbeben, Flutwellen und Vulkanausbrüche verursachen?
Der Begriff "Allmächtigkeit" ist auch logisch problematisch,
denn Gott könnte z.B. nicht "einen so schweren Stein erschaffen", dass er ihn
"selbst nicht mehr aufheben kann". Ebenso gibt es einen Widerspruch zwischen
Allgüte und freier Wahlmöglichkeit zwischen Gut und Böse. Wie könnte sich ein
allgütiger Gott jemals für das Böse entscheiden? Er könnte es nicht tun.
Weiters sei angeführt, dass ein freier Wille im Sinne eines
unbedingten Willens, also eines grundlosen Grundes, dem Urheberprinzip
widerspricht. Was könnte es denn sein, das letztendlich die Entscheidung
zwischen Gut und Böse bewirkt, wenn nicht ein bestimmter Grund? Etwas Böses in
uns, etwa eine böse Kraft? Aber woher sollte diese Kraft kommen? War sie schon
immer da? Oder wechselt sie beliebig? Sollte es eine solche Kraft geben, so
könnte sie nur von außen und daher unwillkürlich bestimmt sein. Jedenfalls wäre
sie von höchst fragwürdiger und irrationaler Natur, würde uns in sehr negativer
Weise beeinflussen, Erziehung und Ethik sowie die Hoffnung auf mehr
Menschlichkeit grundsätzlich in Frage stellen, und uns in Wirklichkeit unfrei
machen. (16)
Vertritt man die Meinung, dem Menschen stehe es nicht zu,
sich mit menschlicher Vernunft und Logik ein Urteil über Gott zu bilden, führt
dies zur Frage, wie sonst sollte ein Mensch den rechten Gott von einem Dämon
unterscheiden können? Für den Glauben gilt, dass der rechte Glaube ein
vernunftgemäßer und verantwortlicher Glaube sein muss.
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