Einleitung :: Kurzbeschreibung :: Grundlegende Begriffserklärungen :: Positionierung des Textes

Literaturverzeichnis :: Anmerkungen und Quellen :: impressum :: feedback u. links:: home

 




 

Gedanken zur Selbstbestimmtheit

Gedanken über unsere Identität

Elyse und Paula - ein eineiiges Zwillingspaar

Exkurs zum Phänomen "Bewusstsein"

Gedankenspiele bezüglich unserer Identität

Die Mystik des Einsseins

Gedanken zur Brüderlichkeit

Epilog: Gedanken zum Frühling

Symbol in Bewegung I
© Mag.art Elisabeth Schickmayr

 

 

 

Gedanken zur Selbstbestimmtheit

   

Es mag aufgeworfen werden, dass sich die Frage nach diesem Begriff überhaupt nicht stellt. Sind wir zumindest in unserem Inneren nicht von Natur aus selbstbestimmt? Ist unser eigener Körper bzw. unser eigener Wille nicht der Garant dafür? Es scheint so zu sein, denn wir haben das Gefühl, dass Körper und  Wille nur uns selbst gehören. Nur wir selbst verfügen über sie. Können wir uns auf dieses Gefühl verlassen?

Im Duden (www.duden.de, abgefragt 2019 08 19) steht "selbstbestimmt" für "eigenständig,  eigenverantwortlich, nach eigenem Willen", und "Selbstbestimmung" für a) "Unabhängigkeit des bzw. der Einzelnen von jeder Art der Fremdbestimmung (z.B. durch gesellschaftliche Zwänge, staatliche Gewalt)", für b) "Unabhängigkeit des Individuum von eigenen Trieben, Begierden u. Ä.", sowie für c) "Unabhängigkeit eines Volkes von anderen Staaten und die Unabhängigkeit im innerstaatlichen Bereich".

Wie bereits durch den Duden nahe gelegt, ist in diesem Essay nicht die instinktgetriebene Freiheit eines Vogels oder der naturgegebene Lebenswille eines Babys gemeint, ebensowenig das selbstbezogene Verhalten eines Egoisten oder die ungezügelte Macht eines Despoten.

Wenn wir Menschen von Selbstbestimmtheit sprechen, so können wir darunter verstehen, dass wir selbst über unser Wollen und Handeln bestimmen. Abhängig von Kultur und persönlichem Umfeld werden jedem Menschen Freiräume eingeräumt, aber auch Grenzen auferlegt. Wir benötigen zu unserer Entfaltung ein soziales Umfeld, bei dem Erziehung und Kultur eine besondere Rolle spielen. Sowohl ein zu autoritärer als auch ein zu antiautoritärer Erziehungsstiel können diese Entfaltung beeinträchtigen. Und diese Einflüsse können zu unserer Selbstfindung beitragen oder uns auch manipulieren oder entfremden.

Wie können wir diesen Einfluss beurteilen?  Aus meiner Sicht sollten sie einerseits den "Prinzipien der Vernunft" entsprechen und andererseits Wahrheit vermitteln.

In diesem Sinn hat Selbstbestimmung sowohl mit einem ausgewogenen Sozialverhalten zu tun als auch mit dem Erkennen von Gründen, mit dem Verstehen von Abhängigkeiten, Vernetztheiten, und Zusammenhängen, mit dem Wissen um einer großen Anzahl von möglichen Handlungsalternativen und deren Auswirkungen oder allgemein gesagt mit dem Erkennen der Prinzipien der Vernunft und einem gut angenäherten Wissen von der Realität. Die Realität sowie die Prinzipien der Vernunft umfassen dabei den gesamten Einflussbereich des Menschen, also neben der Natur alles Lebendige, insbesondere den Menschen und seine Kultur. Vieles kann der Mensch durch eigenes Beobachten erkennen, vieles wird durch Tradition und Erziehung vermittelt, aber nicht alles davon ist richtig oder vernünftig. Zur Überprüfung bzw. zur Vertiefung dieses Wissens können die Wissenschaften beitragen.

Wie noch später im Anhang in den grundlegenden Begriffserklärungen weiter ausgeführt wird, wird angenommen, dass es Wahrheit bzw. Annäherungen an die Wahrheit in wissenschaftlicher Hinsicht gibt, und dass es Prinzipien der Vernunft im Sinne einer universalistischen Ethik geben könnte. Ein Relativismus im Sinne von "alles ist wahr bzw. richtig und nichts ist falsch" wird abgelehnt.

Bezüglich eines globalen Zusammenlebens wird davon ausgegangen, dass sich das vernunftbegabte Wesen Mensch stetig diesen Prinzipien der Vernunft annähern kann.

Ein dogmatischer oder ideologischer Wahrheitsbegriff wird grundsätzlich und strikt abgelehnt. Es soll daran erinnert werden, dass im Namen von dogmatischen Wahrheitsansprüchen die größten Grausamkeiten in unserer Welt verübt wurden. Das Prinzip der Kritik ist von fundamentaler Bedeutung und findet sich in der zeitgemäßen Weltanschauung des evolutionären Humanismus wieder. Als Beispiel für eine Handlungsmaxime im Sinne einer universalistischen Ethik könnte der kategorische Imperativ (1)  gelten.

Selbstbestimmtheit hat somit sehr viel mit Hinterfragen zu tun und ist nicht etwas, das dem Menschen einfach gegeben ist; er muss sie sich mühsam erarbeiten. Erarbeiten, indem er Wissen erwirbt, und seinen Willen, seine Ziele und seine Entscheidungen reflektiert. (2)

Mit unserem Willen in direktem Zusammenhang stehen unsere Entscheidungen. Wie können wir uns den Entscheidungsvorgang vorstellen? Im Entscheidungsprozess gibt es zwei oder mehrere Handlungsalternativen. (3)   Wir führen Bewertungen über unsere Handlungsalternativen durch und ohne Zweifel werden wir uns für jene Alternative entscheiden, welche uns zum Entscheidungszeitpunkt als die Beste erscheint. Situationsbedingt wird somit die Entscheidung vorgegeben. (4)

Im Hintergrund einer Entscheidung stehen Erfahrungen, erworbene Bildung, anerzogene Moralforderungen, Emotionen (5) , Instinkte, Triebe, Bedürfnisse, Traumas, genetische oder krankhafte Einflüsse.

Beim Entscheidungsprozess gibt es eine gewisse Dominanz des Emotionalen über das Rationale. Die Neurowissenschaft berichtet in diesem Zusammenhang, "dass das limbische System, aber nicht das rationale System der Großhirnrinde, einen direkten Zugriff auf diejenigen Systeme in unserem Gehirn hat, welche letztendlich unser Handeln bestimmen. Das limbische System hat gegenüber dem rationalen corticalen System das erste und das letzte Wort. Das erste beim Entstehen unserer Wünsche und Zielvorstellungen, das letzte bei der Entscheidung darüber, ob das, was sich Vernunft und Verstand ausgedacht haben, jetzt und so und nicht anders getan werden soll. Der Grund hierfür ist, dass alles, was Vernunft und Verstand als Ratschläge erteilen, für den, der eigentliche Handlungsentscheidungen trifft, emotional akzeptabel sein muss. Es gibt also ein rationales Abwägen von Handlungen und Alternativen und ihren jeweiligen Konsequenzen, es gibt aber kein rein rationales Handeln. Am Ende eines noch so langen Prozesses des Abwägens steht immer ein emotionales Für oder Wider." (Roth 2009, 162). Sehr viele Entscheidungen nehmen uns Unterbewusstsein, Instinkte oder Gewohnheiten ab.

Je umfangreicher und relevanter unser persönlicher Erfahrungsschatz und das daraus abgeleitete Wissen sind, umso eher können wir uns auch für eine Alternative entscheiden, die auch tatsächlich zum gewünschten Ziel führt. Ist dies nicht letztendlich Selbstbestimmtheit? Sich so entscheiden zu können, dass wir möglichst einfach, schnell und sicher zu unserem gewünschten Ziel kommen? Aber auch, dass wir uns möglichst viele Ziele vorstellen können, sie untereinander abzuwägen verstehen, und dass uns bei der Wahl der Ziele sowie der Zielerreichung keine irrationalen Ängste, Zweifel oder Schuldgefühle, Traumas oder Phobien im Wege stehen.

An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass es bei der Entscheidungsfindung zusätzliche Faktoren geben kann, die von außen oder von innen wirken. Von außen wirkende Faktoren sind, wenn wir in ein Gefängnis eingesperrt, durch eine Diktatur terrorisiert, oder wegen ethnischer Zugehörigkeit diskriminiert werden. Wird uns die Fähigkeit zum Denken und objektiven Erleben genommen, oder plagen uns neurotische Ängste, so handelt es sich um von innen wirkende Faktoren. Ferner sei noch angeführt, dass man die erforderliche soziale Stellung sowie die Mittel benötigt, um die gewünschten Handlungsoptionen auch tatsächlich umsetzen zu können.

Je mehr wir von illusionären und unvernünftigen Faktoren abhängig sind, umso mehr werden wir im Handlungsspielraum eingeschränkt. Dazu gehören Vorurteile, Irrtümer, Irrlehren, Manipulationen, Vereinnahmungen, einseitige Berieselungen, Unwissen, Disharmonie, Narzissmen, Neurosen und Psychosen. Aus diesem Grund sind sie instabil  und engen uns ein.

In diesem Erklärungsmodell werden Instinkte, Triebe, Gefühle und Unterbewusstes insofern überwiegend dem Selbstbestimmenden zugeordnet, als sie sinnvolle Mechanismen zur Realitätsbewältigung darstellen. Es überrascht nicht, dass sie andererseits auch  kontraproduktiv und einengend sein können.

Somit ist selbstbestimmtes Handeln ein freies Handeln, was aber nicht bedeutet, dass das Handeln unverursacht ist. Diese Betrachtungsweise des Willens führt zu Konsequenzen, die wesentliche kulturelle und institutionelle Einrichtungen berühren. Dies deshalb, weil ein freier Wille im Sinne eines unbedingten oder unverursachten Willen als Ideologie oder Dogma entlarvt wird, das der Realität nicht entspricht. Daraus folgt, dass es keine bedingungslose Wahl zwischen Gut und Böse geben kann. Dieses Verständnis ist keineswegs neu. Die Frage nach einem durch nichts bedingten menschlichen Willen wurde bereits von Persönlichkeiten wie Einstein (6) , Edison, Darwin, Freud, Schopenhauer (7)   , oder Nietzsche verneint. (8)  

Was sind nun die oben erwähnten Konsequenzen? Die Analyse hat ergeben, dass jede Entscheidung seine Gründe und Ursachen hat, und somit jeder Mensch in seiner jeweils ganz spezifischen und momentanen Situation sich nur in einer ganz bestimmte Weise entscheiden wird. Jede Entscheidung wird also durch die jeweiligen externen und internen Bedingungen sowie durch die kognitiven und psychologischen Prozesse im menschlichen Bewusstsein bestimmt.

Als erste Konsequenz kann angefügt werden, dass ein Bestimmtsein des menschlichen Wollens unser Ego ankratzen könnte. Doch sollte eine Selbstbestimmung nicht gerade unser Ego stärken? Ein gesundes Selbstbewusstsein bedarf deshalb keiner mysteriösen Unbestimmtheit des Willens.

Hätte als zweite Konsequenz damit die Rechtsprechung ein Problem? Das römische Recht, welches Grundlage für viele westliche Rechtssysteme ist, setzt die willentliche Entscheidungsfreiheit zwischen "erlaubt" und "unerlaubt" voraus. Jede Gesellschaft benötigt Regeln, um ein zufrieden stellendes Zusammenleben zu ermöglichen. Indem eine Gemeinde oder ein Staat in einem Konsens solche Vereinbarungen aufstellt, wird ein geordnetes Leben erst möglich. Diese Regeln können nur dann Sinn machen, wenn sie auch eingehalten werden. Dies geschieht aber nur dann, wenn bei Missachtung solcher Regeln angemessene Strafen oder Korrektive vorgesehen sind. Die Gesellschaft muss vor einem Gewalttäter geschützt werden, und sei es nur dadurch, dass man ihn in ein Gefängnis steckt. Daran kann und darf auch der Umstand nichts ändern, dass der Mensch in seinen Entscheidungen bestimmt ist. Allerdings darf niemals eine Person als die Verkörperung des Bösen gesehen werden, denn wer kann schon die genauen Ursachen und Auslöser seines Handelns vollständig nachvollziehen? (9)   

Innerhalb kleinerer Gruppen wie z. B. innerhalb einer Familie können die erforderlichen Regeln und Sanktionen durch liberalere Formen ersetzt werden. Forschungsergebnisse über das Seelenleben von Schwerverbrechern, wie z.B. im Buch "Das Serienmörder-Prinzip" von Stephan Harbort (vgl. 2009) beschrieben, geben tiefe Einblicke in das Zustandekommen unglaublicher Verbrechen, und machen die furchtbaren Taten teilweise nachvollziehbar. Dabei spielt die Kindes- und Jugendzeit eine besonders große Rolle. (10)

Zerrüttete Familienverhältnisse, sexueller Missbrauch, Alkoholismus und Gefühlskälte eines Elternteiles, Mobbing, emotionale Zurückweisung, körperliche Züchtigung, allgemeine Vernachlässigung aber auch zu fürsorgliches Verhalten sind entscheidende Risikofaktoren. Das daraus resultierende Minderwertigkeitsgefühl und das verlorene Urvertrauen gemeinsam mit schicksalhaften Faktoren und genetischen Grundlagen liefern einen hohen Erklärungsanteil für das Entstehen von Schwerverbrechen. (11)

In der Einführung seines Buches kommt der erfahrene Kriminalhauptkommissar  aus Deutschland, der in Forschungsprojekten mit mehreren Universitäten zusammengearbeitet hat, zur beängstigenden Aussage, dass "der eine oder andere unter uns höchstwahrscheinlich am Ende seines Buches zur irritierenden Schlussfolgerung gelangen wird: Der oder die könnte ich selber sein." (Harbort 2009, 13). Andere Autoren, z. B. der österreichische Gerichtspsychiater Reinhard Haller (2007), liefern weitere interessante Beiträge zu diesem Thema.

Negative Konsequenzen in der Gesellschaft sind also nicht zu erwarten, wenn man die bedingungslose Wahl zwischen Gut und Böse in Frage stellt, wohl dagegen positive, da es den Hass zwischen den Menschen dämmt und die Toleranz fördert. (12)   Mittels einer konsequenten Ursachenforschung der Kriminalität können die Rahmenbedingungen positiv geändert werden und somit die Verbrechen reduziert werden. (13)  

Als dritte Konsequenz hätten so manche Religionen damit ein Problem, weil Schuldzuweisung und Drohung als Angst- und Druckmittel verwendet wurden, und teilweise auch noch werden, wenn auch vielfach nur unterschwellig und subtil. Die z. B. in den Evangelien beschriebene Liebe, Toleranz und Nachsicht hätte damit weniger Probleme, allerdings kann nicht in Abrede gestellt werden, dass auch in der Bibel die Schuldzuweisung an vielen Stellen verankert ist, und man müsste sich von diesen Stellen distanzieren. (14)    Dies ist im derzeitigen Verständnis des Christentums schwer vorstellbar, zumindest aus klerikaler Sicht.

Nachfolgend noch einige grundsätzliche Gedanken zur biblischen Gottesvorstellung sowie zur Lehre von einer falsch verstandenen Willensfreiheit. Der biblische Gott wird als allmächtig, allwissend und allgütig beschrieben. Ist Gott allmächtig, so kann der Mensch nicht gleichzeitig einen freien Willen haben. Hätte der Mensch einen freien Willen, so würde die Allmacht Gottes beim Menschen enden. Ähnliches gilt für Allwissenheit. Da der allwissende Gott schon im Vorhinein wissen müsste, wie sich ein Mensch in Zukunft entscheiden wird, kann der Mensch nicht gleichzeitig einen freien Willen haben. (15)   Hat der Mensch aber keinen freien Willen, so sind ewige Höllenqualen als Strafe nicht zu rechtfertigen. Dies würde einem allgütigen Gott widersprechen.

Generell, wie vertragen sich die vielen Übel der Welt mit einem sowohl allgütigen, als auch allmächtigen und allwissendem Gott? Warum rettet er z. B. nicht ein kleines unschuldiges Kind, das qualvoll in einem brennenden Haus zugrunde gehen muss? Oder wie verträgt es sich mit dem unfassbaren Leid, das Erdbeben, Flutwellen und Vulkanausbrüche verursachen?

Der Begriff "Allmächtigkeit" ist auch logisch problematisch, denn Gott könnte z.B. nicht "einen so schweren Stein erschaffen", dass er ihn "selbst nicht mehr aufheben kann". Ebenso gibt es einen Widerspruch zwischen Allgüte und freier Wahlmöglichkeit zwischen Gut und Böse. Wie könnte sich ein allgütiger Gott jemals für das Böse entscheiden? Er könnte es nicht tun.

Weiters sei angeführt, dass ein freier Wille im Sinne eines unbedingten Willens, also  eines grundlosen Grundes, dem Urheberprinzip widerspricht. Was könnte es denn sein, das letztendlich die Entscheidung zwischen Gut und Böse bewirkt, wenn nicht ein bestimmter Grund? Etwas Böses in uns, etwa eine böse Kraft? Aber woher sollte diese Kraft kommen? War sie schon immer da? Oder wechselt sie beliebig? Sollte es eine solche Kraft geben, so könnte sie nur von außen und daher unwillkürlich bestimmt sein. Jedenfalls wäre sie von höchst fragwürdiger und irrationaler Natur, würde uns in sehr negativer Weise beeinflussen, Erziehung und Ethik sowie die Hoffnung auf mehr Menschlichkeit grundsätzlich in Frage stellen, und uns in Wirklichkeit unfrei machen. (16)

Vertritt man die Meinung, dem Menschen stehe es nicht zu, sich mit menschlicher Vernunft und Logik ein Urteil über Gott zu bilden, führt dies zur Frage, wie sonst sollte ein Mensch den rechten Gott von einem Dämon unterscheiden können? Für den Glauben gilt, dass der rechte Glaube ein vernunftgemäßer und verantwortlicher Glaube sein muss.

 

   
   
   
   
 

 

 

 
     

 

   © 2015 by R. Pirnbacher •  pirni@aon.at